Wir möchten alle neugierig machen - Neuzugezogene und "alte Hasen" - vielleicht entdecken auch langjährige Gemeindemitglieder noch unbekannte Details...
Wer war eigentlich der Architekt der neugotischen St. Ludgeri – Kirche?
Dipl.-Ing. Eduard Wendebourg (* 1857; + 1940)
Am 25. Mai 1896 begann der Abbruch der mittelalterlichen Kirche von Ehmen. Bald darauf entstand die neugotische, heute noch vorhandene St. Ludgeri-Kirche. Mit ihrem hoch aufragenden Turm ist der Ziegelsteinbau eine weithin sichtbare, vom christlichen Glauben zeugende Landmarke. Im Kunstdenkmalband des Kreises Gifhorn, zu dem der Ort Ehmen 1931 noch gehörte, heißt es dazu lediglich kurz und knapp:„Die ehemalige, aus romanischer Zeit stammende Kirche in Ehmen wurde 1895 – 97 durch einen Backsteinrohbau in gotischen Formen nach den Plänen des Architekten Wendebourg aus Hannover ersetzt.“
1. Herkunft und Schulzeit:
Der Baumeister Eberhard Julius Eduard Wendebourg wurde als drittes von neun Kindern des Pfarrerehepaares Hermann Wendebourg (*1818; + 1898) und Henriette Auguste, geb. Boes (*1824;+ 1918), am 23.09.1857 in Lewe-Liebenburg/Kr. Goslar geboren. Sein Vater stammte aus einer weit verzweigten Pastorenfamiele, der auch die ehemalige Pastorin der Wolfsburger St. Annen-Gemeinde, Dr. Nicola (Piper-)Wendebourg, angehört.
Die mütterliche Famile Boes, wuchs im Hoffmann-Haus in Fallersleben auf. Der berühmte Dichter war ihr Onkel. Ihr Vater, Fritz Boes (*1792 ; +1878), hatte 1821 die Schwester des Germanisten, Dorothea Hoffmann (*1800; + 1883), geheiratet und Geschäft sowie Haus der Familie Hoffmann übernommen und weitergeführt. Diese engen familiären Verflechtungen zum Fallersleber Raum sind sicherlich bei der Architektenwahl in Ehmen nicht unerheblich gewesen, zumal zwischen den am Kirchenneubau beteiligten Firmen und den Familien Hoffmann/Boes nicht nur geschäftliche, sondern auch gesellschaftliche Beziehungen bestanden. Der Autor bedankt sich für die freundliche Unterstützung bei Frau Brigitte Blankenburg, Hoffmann – Gesellschaft Fallersleben.
Eduard Wendebourg wuchs in einem großen Geschwisterkreis auf. Trotz der ländlichen Abgeschiedenheit von Lewe-Liebenburg, waren die Eltern bestrebt, das Pfarrhaus stets für auswärtige Gäste offen zu halten. Auf diese Weise pflegten sie ein reiches geistiges Leben. Unter anderem hielt sich der Germanist und Dichter des Liedes der Deutschen (Nationalhymne) August Heinrich Hoffmann von Fallersleben oft in Lewe-Liebenburg auf. Dabei führten ihn aber nicht nur verwandtschafliche Bindungen, sondern das Interesse an der Gestaltung deutscher Liedtexte mit dem Vater des späteren Architekten zusammen. Hermann Wendebourg gilt nämlich als „Vater des Hannoverschen Gesangbuches“.
Der junge Eduard genoss zunächst eine stark musisch-protestantisch ausgerichtete Erziehung. Er besuchte von 1864 bis 1872 die vom Vater gegründete Privatschule in Liebenburg. Ziel war es hier, auf eine christlich orientierte und sittlich gefestigte Lebensführung der Schüler hinzuwirken. Diese Grundlagen haben Eduard Wendebourg Zeit seines Lebens geprägt. Sie hat er später auch an seine Kinder weitergegeben.
Seit Ostern 1872 besuchte Eduard Wendebourg das Gymnasium in Wolfenbüttel. Doch schon bald fehlte es ihm an der rechten Motivation, weiterhin die Schulbank zu drücken. „Die geringe Freude an den alten Sprachen, leider wohl mit veranlasst durch nicht genügend Fleiß, erweckte in mir den Wunsch, die Schule zu verlassen. Mein Vater gab nur schwer seine Einwilligung dazu“, schrieb er später.
Da sein Sohn so gar nicht dem vorgezeichneten Lebensweg des Vaters folgen und ohne Abschluss das Gymnasium verlassen wollte, um stattdessen eine Kaufmannslehre zu beginnen, gab Hermann Wendebourg zwar widerstrebend, aber schließlich doch seinem Drängen nach. So wurde Eduard mit nicht ganz 16 Jahren in die Lehre der Kolonialwarenhandlung Zwintscher in Gotha gegeben. Zunächst war der junge Mann mit großem Eifer bei der Sache. Doch, von den Eltern getrennt, leidet er im ersten Winter schon an Heimweh und Kälte. Schon bald ist Eduard von selbst zu der Erkenntnis gekommen, dass eine solide Schulbildung wichtiger sei als eine Kaufmannslehre, die er nach einem Vierteljahr abgebrochen hat.
Mit Billigung des Vaters setzt er seine Schulstudien an der Königlichen reorganisierten Gewerbeschule Hildesheim, der späteren Oberrealschule, von Ostern 1874 bis Michaelis 1875, fort.
2. Das Architekturstudium
Nach dem Abitur studiert er das Fach Architektur an der Königlichen Technischen Hochschule zu Hannover (Oktober 1875 bis Dezember 1879). Der junge Student hörte hier mit Begeisterung die Vorlesungen des Altmeisters der Baukunst im Land Hannover, Conrad Wilhelm Hase ( *2.10.1818 Einbeck; + 28.3.1902 Hannover). Hase war nicht nur ein väterlicher Mentor, sondern ein langjähriger Freund der Familie.
In Wendebourgs Geburtsort entstand seit Anfang des 19. Jahrhunderts neben dem alten Dorf Lewe das zweite Dorf Liebenburg zu Füßen des Schlossberges. Nicht zuletzt durch die 1882 gegründete „Klinik Dr. Fontheim“ wuchsen beide Orte immer mehr zusammen. Für die stetig steigende Zahl der Gläubigen wurde die alte Kirche zu klein, so dass Pastor Hermann Wendebourg sie fast vollständig abtragen und durch einen Neubau ersetzen ließ. Als Architekt hatte er den Baurat Hase gewinnen können. Am 8. November 1863 vollzog Pastor Wendeborug die Weihe der neuen, aus Backsteinen im neugotischen Stil erbauten St. Trinitatis-Kirche. Auch nach Bauabschluss hat es den Architekten Hase immer wieder nach Lewe-Liebenburg gezogen. Seine zweite Frau ist in jener Gemeinde sogar geboren.
Hase hat in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland maßgeblich eine ganze Generation von Architekten stilistisch geprägt. Eine führende Rolle unter der begeisterten Schülerschaft nahm dabei ohne Zweifel der Ehmer Kirchenbaumeister Eduard Wendebourg ein. Der Student war damals, wie viele seiner Zeitgenossen, von dem „Virus“ der so genannten Neostile, die man auch unter dem Begriff „Historismus“ fassen kann, ergriffen worden. In jener Epoche (ca. 1830 bis 1910) erwachte in großen Teilen Europas (u. a. England, Frankreich, Deutschland, Österreich) das Interesse an den Baustilen vor allem des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Durch die schwärmerische Rückbesinnung auf die eigene nationale Vergangenheit kam es im deutschen Kirchenbau zu einer besonders lebhaften Auseinandersetzung mit den mittelalterlichen Baustilen Romanik und Gotik. Die Bauaufgaben der Architekten damaliger Zeit bestanden in zwei Tendenzen: einerseits der Bewahrung und Vollendung mittelalterlichen Bauens, andererseits der neuen Architekturschöpfung.
Als positive Folge dieser Wiederentdeckung mittelalterlicher Kunststile muss das Bestreben um die werkgetreue Vollendung des Kölner Doms und des Ulmer Münsters gesehen werden. Gerade in der Wiederaufnahme der Arbeiten an der unvollendet gebliebenen Kathedrale des rheinischen Erzbistums im Jahre 1848 und mit der Gründung des Kölner Dombauvereins erhielt die gotische Architektur eien vollkommen anderen Bedeutungsgehalt. Die gotische Formensprache wurde besonders in katholischen Kreisen als „die wahre christliche Kunst“ oder der „christliche Stil“ bezeichnet. Dies hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Gestaltung protestantischer Kirchen.
Unter dem Gesichtspunkt der symbolischen Bedeutung des Lichtes in den christlichen Religionen sprachen die lichtdurchfluteten, hohen neugotischen Kirchenräume die Zeitgenossen mehr an als die massiv und eher schwer wirkenden, neuromanischen Gotteshäuser.
Im heutigen Wolfsburger Stadtgebiet können wir diese Entwicklung in allen möglichen Varianten greifen. So wurde in Hesslingen die St. Annen-Kirche grundlegend im neuromanischen Stil von Friedrich Maria Krahe (*1804; +1888) renoviert. In Ehmen war eine bewahrende Bauerhaltung aussichtslos, so dass hier 1896 die mittelalterlich-romanische St. Ludgeri-Kirche abgetragen und durch einen neugotischen Bau ersetzt wurde. In Nordsteimke hat sich die Gemeinde 1904 für einen Neubau des Kirchenschiffes mit Sakristei im neugotischen Stil entschieden, der vom Helmstedter Kreisbauinspektor Baurat Gaehlert ausgeführt wurde. Das mittelalterliche Turmwerk blieb hingegen erhalten.
Schließlich hatte der politische, gesellschaftliche und technische Wandel des 19. Jahrhunderts, dem Zeitalter der Industrialisierung, Folgen für die Architektur. Dabei ist das rationell-ökonomische Moment eines neuen Kirchenbaus allgemein, und im Speziellen auch in Ehmen, nicht zu übersehen. Mit der maschinellen Herstellung von großen Stückzahlen gleich geformter Backsteine, entdeckte man diese Bautechnik, die einst im Mittelalter besonders in den Hansestädten, der Altmark und in Niedersachsen zum Einsatz kam, wieder neu.
Die Vervollkommnung der baustatischen Berechnungen führte zu vorgefertigten Bauelementen. Der Kirchenraum in Ehmen veranschaulicht in selten deutlicher Weise das Zusammenspiel zwischen gesuchter historischer Form und moderner Ingenieurbauweise. Wendebourg hat zwar die Außenwände und die Einwölbung des Chores sowie die Ausstattung in gotischen Formen gestaltet, den modernerem Empfinden entsprechend weiten Kirchensaal aber mit einem offenen Dachstuhl mit frei sichtbarem Tragwerk überspannt. Er folgt damit den Erwartungen der Kirchengemeinde an einen Architekten. Während im Mittelalter die Entwürfe der Bauarchitektur und die Gestaltung der Innenausstattung in den Händen unterschiedlicher Personen liegen, gehen zu Wendebourgs Zeiten nicht nur die Architektur, sondern auch die oftmals bis heute vorhandenen Ausstattungen, die Altäre, die Kanzel, der Taufstein, die Orgel oder die Glasmalereien, auf den Architekten zurück. Mit der weit tragenden Dachkonstruktion über dem Langhaus löst Wendebourg sich in Ehmen von seinen mittelalterlichen Vorbildern, die hier aus statischen Erwägungen wohl eine, allerdings nicht das ganze Kirchenschiff überspannende, Einwölbung gewählt hätten.
Die Fähigkeit, an historischen Bauten orientierte Neubauten zu erstellen und zugleich moderne Elemente der Neuzeit zu integrieren, hatte Wendebourg in seinem Studium bei Hase gelernt. Über diese Zeit äußerte er später: „Da die Hildesheimer Schule zur Zeit meines Besuchs derselben zum Eintritt in den Staatsdienst für das Hochschulfach noch nicht berechtigte, was weder meinem Vater noch mir bekannt gewesen war (erst später erhielt sie die Berechtigung, jedoch ohne rückwirkende Kraft), so waren mir auch die Staatsexamina verschlossen. Ich unterzog mich darum beim Abgange von der Hochschule dem Diplomexamen, das ich Ende des Jahres 1879 (am 19 .Dezember) bestand.“
In der hannoverschen Studienzeit kam die musische Prägung Wendebourgs immer wieder zum Ausdruck. Er besuchte Konzerte, Vorträge und Theatervorstellungen, um sich geistig fortzubilden.
Vom Bauführer zum selbstständigen Architekten: Bauen im Stil der Neoromanik und Neogotik
In den Jahren 1881 bis 1887 begann die praktische Arbeit als Bauführer. Zunächst leitet er die Neubauten der Kirchen zu Hanstedt (Insp.Pattensen) 1881/82 und zu Schönfeld (Prov. Sachsen) 1883/84. Dann wurde von 1885 bis 1887 der Wiederaufbau des durch einen großen Brand 1883 zerstörten Gotteshauses von Neuenkirchen (Kreis Melle) von ihm verantwortlich geleitet. Hier wohnte er im Haus der Witwe des verstorbenen Apothekers Wilhelm Niemann. Die einzige Tochter des Hauses, Julie, wurde seine künftige Lebensgefährtin. Am 22. Februar 1888 hat sich Eduard Wendebourg dann als selbstständiger Architekt niedergelassen. Als sich herausstellte, dass der Beruf nicht nur seinen Mann, sondern eine Familie ernährte, heiratete er am 5. März zu Neuenkirchen.
Im Laufe seiner langen Architektenlaufbahn, Wendebourg arbeitet bis in sein 82. Lebensjahr, hat er mehr als 200 Projekte durchgeführt: Neubauten, Erweiterungen, Umbauten, Restaurierungen, Renovierungen und Gutachten. Der überwiegende Teil seiner Bautätigkeit fällt in den Bereich des Sakralbaus. Aber auch einige Schulbauten sind unter seinen Aufträgen. Unter den Kirchenbauten finden sich nur wenige, die im neuromanischen Stil gestaltet wurden (u.a. Kirche Lemförde bei Diepholz, 1889-90/Kirche Liebenburg-Groß Mahner, 1893 / Kirchenschiff Hannover – Bothfeld, 1910). Der überwiegende Teil wurde im Stile der Neugotik errichtet. Zu den namhaftesten Gebäuden zählen: Kirche Gnarrenburg-Kuhstedt, 1892-93 / Kirche Liebenburg – Othfresen, 1894-95 / Kirche Warstade bei Bremerförde, 1897 / Kirche Hannover-List, 1904 / Kirche Hannover – Wülfel, 1909-11/ Lutherkirche Soltau 1911-12. Besonders hervorzuheben ist auch die Kirche in Meinersen-Päse (Lkr. Gifhorn). Bereits 1890 ließ die Gemeinde einen neuen, gotischen Kirchturm in Backstein errichten. Er besitzt eine große Ähnlichkeit mit dem Kirchturm der Kirche in Ehmen, so dass erst auf den zweiten Blick Unterschiede klar werden. Auch ein Gutachten über die Kirche in Sülfeld wurde von Eduard Wendbourg erstellt.
In Anerkennung seiner Verdienste als Architekt erhielt Wendebourg am 19. März 1906 vom Preußischen König Wilhelm II. (=Kaiser Wilhelm II.) den Roter-Adler-Orden 4.Klasse und am 30. Juni 1909 von der Kgl. Technischen Hochschule Hannover den akademischen Grad eines Diplomingenieurs verliehen.
Der I. Weltkrieg brachte die große Zäsur im Leben Eduard Wendebourgs. Sein ältester Sohn fiel, und nach dem Krieg blieben in wirtschaftlich schwerer Zeit der Weimarer Republik die Aufträge aus. So konnte er froh sein, das ihn der Ausschuss des Evangelisch-Lutherischen Gesamtverbandes der Stadt Hannover mit den fortlaufenden Überprüfungen der kirchlichen Bauten betraute. Mit dieser Aufgabe war der alternde Architekt bis in sein 82. Lebensjahr beschäftigt. 1939 zog er zusammen mit seiner Frau zu seiner in Bückeburg (Lkr. Schaumburg) verheirateten jüngsten Tochter, Erika Heidsiek, wo er am 22.10.1940 verstarb.